H-Gas und L-Gas. Der kleine Unterschied
Auf den ersten Blick scheint die europĂ€ische Gaskrise die Schweiz weniger zu treffen, als Europas grösste Wirtschaftsmacht Deutschland. Doch der Blick ins Detail offenbart: Ein kleiner, elementarer Unterschied zwischen den verwendeten Gasarten H und L könnte Industrie und Privathaushalte in Deutschland zum Kollabieren bringen â und in der Schweiz.
TatsĂ€chlich ist das Alpenland auf Gasimporte aus dem Ausland angewiesen. Rund drei Viertel der von Industrie und Haushalten verwendeten Gasmenge stammt derzeit noch aus Russland – und floss bis Ende August 2022 zum grössten Teil ĂŒber die nach Deutschland verlegte Pipeline Nord Stream 1 nach Europa.
Trotzdem erscheint die AbhĂ€ngigkeit verkraftbar. Der Anteil von Gas, gemessen an allen anderen EnergietrĂ€gern, fĂ€llt nominal eher bescheiden aus. So verzeichnete das Bundesamt fĂŒr Energie im Jahr 2021 einen Verbrauch von 122’280 Terajoule Erdgas â was lediglich 15,4 Prozent des gesamten Endenergieverbrauchs des Landes ausmacht. Drei Viertel dieser Menge wiederum wird von Deutschland geliefert. Weitere Vertragslieferanten sind Frankreich, Italien und die Niederlande.
Eigene, nennenswerte Gasspeicher besitzt die Schweiz nicht. So konstatierte der SRF am 27. Januar 2021 nur einen Monat vor Beginn des Krieges in der Ukraine:
«Zwar mĂŒssen die Erdgas importierenden Unternehmen ein Pflichtlager fĂŒhren, das bei Mangellagen fĂŒr 4.5 Monate ausreichen soll. Aus praktischen GrĂŒnden wird das Pflichtlager Erdgas jedoch als Heizöl extra leicht gelagert. Denn es gibt in der Schweiz kein geeignetes Speichersystem fĂŒr FlĂŒssiggas, Bau und Betrieb wĂ€ren gemĂ€ss der Branche viel zu teuer.»
Um das Gas dennoch als Reserve lagern zu können mietet das Land daher Speicher in Nachbarstaaten an, und fĂŒllt diese mit dem eigenen, ebenfalls im Ausland eingekauften Gas auf.
Lange galt dieses eidgenössiche System der Diversifizierung als sexy und effizient. Ohne eigene, milliardenschwere Gasinfrastrukturen unterhalten zu mĂŒssen kaufte man sowohl den EnergietrĂ€ger Gas, als auch die nötigen Serviceleistungen rund um die Speicher im Ausland ein â vor allem in Deutschland.
Zum ökonomischen Vorteil gesellte sich ein weiterer hinzu: Ărger mit den Amerikanern wegen des Bezugs von russichem Gas? Fehlanzeige. Da direkte VertrĂ€ge zu Russland fehlten, konnte man die Regierung in Washington D.C. jederzeit beschwichtigen. Gas aus Deutschland macht sich, politisch auf dem Papier betrachtet, besser als das, was es in Wirklichkeit ist. Selbst der bereits von US PrĂ€sident Donald Trump initiierte Druck auf Berlin, Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, lieĂ die Bundesregierung in Bern kalt.
Heute indes lÀsst diese Politik der Möchtegern-NeutralitÀt womöglich im Winter rund 20 Prozent der Wohnungen und HÀuser in der Schweiz kalt.
Denn mit dem Wirtschaftskrieg zwischen USA und EU auf der einen, und Russland auf der anderen Seite, hat sich die Lage dramatisch geĂ€ndert. Ausgerechnet der 15-prozentige Bonsai-Anteil am gesamten Energieverbrauch des Landes mutieren möglicherweise zur sozialen Zeitbombe. Der Grund liegt auf der Hand: Es sind in erster Linie die grossen StĂ€dte und Industriezentren, in denen Privathaushalte vorwiegend mit Gas aus Russland heizen. Ob Bern, Genf oder Solothurn â spĂ€testens nach dem russischen Stopp der Gaslieferungen an Deutschland Ende August wird im Winter die Lage kritisch.
Das Versiegen von Nord Stream 1 als Hauptschlagader der Schweizer Gasversorgung via Deutschland forciert nun die Umstellung auf Alternativen â nach wie vor mit Deutschland als Hauptlieferanten.
So beteuern der deutsche Wirtschaftminister und Vizekanzler Robert Habeck (GrĂŒne) ebenso wie sein Chef Olaf Scholz (SPD) unisono die Abkehr vom russischen Gas. Nord Stream 2 ging trotz Fertigstellung gar nicht erst in Betrieb. Als Alternative setzt Deutschland auf US-amerkikanisches LNG-Gas und L-Gas aus Deutschland und den Niederlanden, ebenso wie auf Vorkommen aus Norwegen.
Doch die Strategie hat einen Haken: Die Umstellung dauert Jahre, weil sich russisches Gas deutlich von LNG und dem niederlÀndischen Pendant unterscheidet. Die Brisanz des kleinen Unterschieds wird deutlich, wenn man die Webseite der deutschen Bundesnetzagentur liest. Dort heisst es:
«In Deutschland gibt es zwei verschiedene Erdgasarten: L-Gas (Low calorific gas) hat einen geringeren Methangehalt und damit einen geringeren Brennwert beziehungsweise Energiegehalt als H-Gas (High calorific gas). Die Gasart und damit der Brennwert unterscheiden sich je nach Herkunft des Gases. Wegen des unterschiedlichen Brennwerts mĂŒssen die beiden Gasarten in getrennten Gasnetzen transportiert werden».
Man kann es auch direkter formulieren: Alles, was nicht russisches H-Gas ist, muss ĂŒber eine eigene Infrastruktur laufen. Vor allem aber mĂŒssen die Brennkessel und Anlagen umgestellt, oder ganz ersetzt werden. Privathaushalte werden demnach bestenfalls die DĂŒsen des Heizkessels austauchen mĂŒssen â oder aber ein ganz neues GerĂ€t kaufen, wenn der DĂŒsenaustausch technisch nicht funktioniert.
«Ohne den Austausch ist das so, als ob man in einen Benzinmotor Dieselkraftstoff fĂŒllen wĂŒrde», erklĂ€rt ein deutscher Schornsteinfegermeister die eigentliche Problematik. Habecks Plan, auf LNG umzustellen, sie «technisch bei den privaten Haushalten in keiner Weise machbar, es sei denn, man kauft sich einen neuen Kessel».
Als ob das Chaos nicht reichte, kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Deutschland hat zwar mit dem Austausch der Gasnetze begonnen und wollte diesen bis 2030 auch komplett umgesetzt haben, wie die zum Wirtschaftsministerium zĂ€hlende Bundesnetzagentur schreibt, nur: Ersetzt werden sollen die L-Gasleitungen durch Leitungen, die H-Gas transportieren. Das Land der Dichter und Denker bedachte die Folgen der politischen Krise zwischen Russland und den USA nicht â und buddelte bis 2022 fleissig H-Leitungen in die Erde.
«Umstellung von L- auf H-Gas» heisst die nach wie vor aktuelle Infoseite der Bundesnetzagentur, wo erstaunte Leserinnen und Leser AbsĂ€tze wie diesen zur Kenntnis nehmen dĂŒrfen:
«Die sogenannte Marktraumumstellung (MRU) wird bis 2030 nach und nach in Netzgebieten im Nordwesten und Westen Deutschlands umgesetzt. Umstellung bedeutet, dass das transportierte Erdgas in einem Netzgebiet (Marktraum) von Erdgas der Gruppe L durch Erdgas der Gruppe H ersetzt wird. Damit Àndert sich in dem Netzgebiet die Gasbeschaffenheit.
Das Netz und die VerbrauchsgerĂ€te in allen betroffenen Haushalten und im Gewerbe- und Industriesektor mĂŒssen nach und nach umgestellt oder angepasst werden. Betroffen sind alle angeschlossenen Kund*innen in den L-Gas-Gebieten».
Kennt Wirtschaftsminister Habeck die Informationen der ihm unterstellten Bundesnetzagentur nicht? Und ĂŒbersteigen die technischen Details von Gasumstellungen den geistigen Horizont der Politik?
Angesichts dieser Situation ist die Ruhe der Schweizer möglicherweise die Ruhe vor dem Sturm. Das Chaos in Deutschland wird nĂ€mlich die Gasversorgung der Schweiz hart und direkt treffen. Fest steht: Der grosse Nachbar Deutschland kann und wird im Winter nichts liefern, wenn Russland der Gashahn fĂŒr Nord Stream 1 weiterhin zugedreht lĂ€sst.
Ausgerechnet die Schweiz, ĂŒber Jahrzehnte als Monolith der StabilitĂ€t vom Ausland beneidet, schliddert wegen des kleinen Unterschieds beim Gas möglicherweise in soziale Unruhen mit ungeahnten Folgen.
Was kalte Wohnungen im Winter bewirken, kann man anhand von Bildern der rumĂ€nischen Revolution des Jahres 1989 erkennen, die mit der Erschiessung des Diktators Nicolae Ceausescu und seiner Frau Elena am ersten Weihnachtstag endete. Entgegen der landlĂ€ufigen Meinung trieb nicht der Wunsch nach Freiheit allein die Menschen auf die StraĂe und zum Griff nach der Kalaschnikow. Es waren kalte, dunkle Wohnungen in den groĂen StĂ€dten, in denen Kinder erkrankten und Alte starben.
KÀlte, das weiss auch die CIA, ist ein Foltermittel. So berichtete das deutsche Magazin Focus im Oktober 2017: «In Windeln in KÀltekammern ausgesetzt: Mit diesen Methoden folterte die CIA»
Kalte Wohnungen, die sich auf Grund von Gasmangel oder schlichtweg wegen der allmĂ€hlich unbezahlbaren Gaspreise nicht mehr heizen lassen, kĂŒhlen nachhaltig aus. Je nach Aussentemperatur kommt man bereits nach zwei Wochen auf nur noch sechs bis acht Grad Celsius rund um die Uhr. Pullover und Decken sind gegen diese Art Folter nutzlos. Begreifen kann das nur jemand, der unter solchen UmstĂ€nden, wie etwas in RumĂ€nien 1989, lebte.
Gewiss, die Schweiz ist nicht das Balkanland 1989, und den blutigen Umsturz in Bern wird es schon auf Grund des Lebensstandards jenseits der Energiekrise nicht geben. Inwieweit dieser Lebensstandard jedoch ĂŒberlebt, wenn Babys auf Grund der selbstgemachten europĂ€ischen Gaskrise de facto in KĂŒhlschrĂ€nken ĂŒberwintern mĂŒssen, bleibt fraglich.
Fest steht: Die von Deutschland gefahrene Politik getreu dem Motto âAus L mach H und dann lieber doch umgekehrt oder eben LNGâ wird nicht so schnell funktionieren, wie es stabile VerhĂ€ltnisse im Lande erfordern wĂŒrden. In Deutschland nicht. Und am anderen Ende der Pipeline auch nicht.